Palästinenser in Gaza fliehen mit wenigen Habseligkeiten

Hamas: 70 Tote bei israelischen Luftangriffen auf Fliehende

Freitag, 13. Oktober 2023 | 22:35 Uhr

Nach Angaben der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas sollen bei israelischen Luftangriffen 70 Menschen auf der Flucht in den Süden der Küstenenklave getötet und 200 weitere verletzt worden sein. Die meisten Opfer seien Kinder und Frauen, erklärte ein Sprecher der Islamisten am Freitag. Drei Konvois seien bei dem “Massaker” getroffen worden, sagte er. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Vom israelischen Militär gab es keine Bestätigung.

Die Berichte würden geprüft, hieß es dort. Zuvor hatte die der Hamas nahestehende Nachrichtenagentur Shehab zudem gemeldet, dass bei einem israelischen Luftangriff auf die Stadt Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen 17 Palästinenser getötet worden seien.

Das israelische Militär hatte die Einwohner der Stadt Gaza am Freitag aufgerufen, bis 20.00 Uhr Ortszeit (19.00 Uhr MESZ) ihre Wohngebiete zu verlassen und sich in den Süden des Gazastreifens zu begeben. Dies wurde als Vorbereitung auf eine mögliche Bodenoffensive gesehen. Die Vereinten Nationen forderten Israel auf, die Anweisung zur Evakuierung zu widerrufen. Es drohe eine “katastrophale Situation”.

UN-Generalsekretär António Guterres forderte einen sofortigen Zugang zum Gazastreifen für humanitäre Hilfe. “Auch Kriege haben Regeln”, sagte Guterres am Freitag vor Journalisten in New York. “Wir brauchen sofortigen humanitären Zugang zu ganz Gaza, damit wir den Bedürftigen Treibstoff, Nahrung und Wasser zukommen lassen können”, forderte er mit Blick auf die israelische Blockade der Küstenenklave.

Bevor er hinter verschlossenen Türen an einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats zu dem Konflikt teilnehmen wollte, sprach sich Guterres auch ausdrücklich gegen den Aufruf des israelischen Militärs zur Massenevakuierung des nördlichen Gazastreifens aus. Ein solcher Schritt, der etwa 1,1 Millionen Menschen in dem dicht besiedelten Palästinensergebiet betreffe, sei “extrem gefährlich – und in manchen Fällen auch einfach nicht möglich”, sagte Guterres. Er forderte auch die sofortige Freilassung aller von der islamistischen Hamas nach Gaza verschleppten Geiseln.

Zudem rief Guterres dazu auf, sich gegen Antisemitismus, anti-muslimischen Fanatismus und verbalen Hass jeder Art, der von dem Konflikt geschürt werde, auszusprechen. “Dies ist eine Zeit für die internationale Gemeinschaft, gemeinsam den Schutz von Zivilisten zu unterstützen und eine anhaltende Lösung für diesen nicht enden wollenden Zyklus von Tod und Zerstörung zu finden.”

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bezeichnete die derzeitigen Gegenschläge im Gazastreifen nur als “Anfang” der Offensive gegen die islamistische Hamas bezeichnet. “Wir werden die Hamas zerstören und gewinnen, aber es wird Zeit brauchen”, sagte er am Freitagabend in einer Ansprache an die Nation. “Unsere Feinde haben gerade erst begonnen, den Preis zu zahlen. Ich werde unsere Pläne nicht näher erläutern, aber ich sage Ihnen, das ist erst der Anfang.” Das jüdische Volk habe seit Jahrzehnten nicht mehr solche Schrecken erlebt. Örtlichen Medien zufolge war es das erste Mal, dass Netanyahu in dieser Form am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, eine Ansprache hielt.

Vor der erwarteten Bodenoffensive im Gazastreifen als Reaktion auf Hamas-Gräuel hat Israels Militär mehr als eine Million Palästinenser zaufgefordert, Gaza-Stadt bis 20.00 Uhr Ortszeit (19.00 Uhr MESZ) zu verlassen. Die Vereinten Nationen warnten vor “verheerenden humanitären Folgen”. Es wäre rund die Hälfte der örtlichen Bevölkerung betroffen. Die radikalislamische Hamas wies die Anordnungen Israels zurück: “Wir werden sterben und nicht gehen.” Im TV waren Flüchtlingsströme zu sehen. Augenzeugen orteten “blanke Panik”.

TV-Bilder zeigten, wie Menschen in Autos, auf Lastwagen, mit Eselskarren und zu Fuß auf der einzigen Hauptstraße des Gazastreifens Richtung Süden unterwegs waren. Das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte, der Küstenstreifen werde angesichts der massiven Luftangriffe und der Abriegelung zu einem “Höllenloch” und stehe “am Rande des Zusammenbruchs”.

Israels Militär erklärte, Zivilisten sollten in den Süden des Palästinensergebiets gehen. In Gaza-Stadt werde es in den nächsten Tagen Militäroperationen geben. Die Menschen sollten sich in ein Gebiet südlich des Wadis Gaza begeben, der etwa in der Mitte des nur 40 Kilometer langen Gebiets liegt.

Die israelische Armee unternahm nach eigenen Angaben innerhalb der vergangenen 24 Stunden bereits mehrere begrenzte Vorstöße auf das Gebiet des Gazastreifens. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari schrieb am Freitagabend bei Twitter, Ziel dieser Einsätze sei es, “das Gebiet von Terroristen und Waffen zu säubern”. Dabei habe es auch Bemühungen gegeben, Vermisste zu finden.

Das palästinensische Volk “weist die Drohung und die Aufforderung der Besatzungsanführer zurück”, erklärte Hamas in einer Stellungnahme am Freitag. “Wir bleiben standhaft auf unserem Land, in unseren Häusern und unseren Städten. Es wird keine Vertreibung geben”, hieß es weiter. Die Menschen in Gaza-Stadt und im Norden des Gazastreifens sollten ihre Häuser und Wohnungen nicht verlassen. Auch die Moscheen riefen die Menschen dazu auf, ihre Wohnungen nicht zu verlasse.

Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Shtajjeh warf Israel vor, einen “Völkermord” im Gazastreifen zu verüben. “Der Gazastreifen ist zu einem Katastrophengebiet geworden”, sagte Shtajjeh am Freitag bei einer Pressekonferenz in Ramallah im besetzten Westjordanland. Der palästinensische Botschafter in Wien, Salah Abdel Shafi, ortete hinter dem Evakuierungsaufruf Israels “nichts anderes als eine ethnische Säuberung”, wie er in einer Aussendung zitiert wurde.

Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas forderte in einem Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken die Einrichtung von humanitären Korridoren in den Gazastreifen, um ein humanitäres Desaster zu verhindern. Das meldete die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA. Er lehnte demnach die israelische Evakuierungsaufforderung als “angeordnete Vertreibung” ab.

Später warnte Abbas vor einer “zweiten Nakba”. “Die Vertreibung unseres Volkes aus dem Gazastreifen ” käme einer “zweiten Nakba” gleich. Mit dem Begriff “Nakba” (Katastrophe) bezog sich Abbas auf die Flucht von rund 760.000 Palästinensern nach Israels Staatsgründung im Jahr 1948. Abbas Fatah ist mit der Hamas verfeindet.

Das Internationalen Komitees vom Rotem Kreuz (IKRK) erklärte am Freitag: “Die schrecklichen Angriffe auf Israel am vergangenen Wochenende sind durch nichts zu rechtfertigen”, aber “diese Angriffe können im Gegenzug nicht die unbegrenzte Zerstörung von Gaza rechtfertigen.”

Die Türkei sieht im Evakuierungsaufruf Israels einen Verstoß gegen das Völkerrecht. “Wir erwarten, dass Israel diesen schwerwiegenden Fehler unverzüglich umkehrt”, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums in Ankara am Freitag. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte: Das “Abschneiden von Wasser, Strom und Nahrung für zwei Millionen Menschen, die auf 360 Quadratkilometern eingeschlossen sind, verstößt gegen die grundlegendsten Menschenrechte”.

Die Zahl der Toten in Israel durch die Großangriffe der islamistischen Hamas ist mittlerweile auf mindestens 1.300 gestiegen. Das gab der Sprecher der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), Jonathan Conricus, am Freitag bekannt. Die große Mehrheit der Todesopfer sind nach Militärangaben Zivilisten. Mehr als 3.000 weitere Menschen seien verletzt worden, sagte der Sprecher. Bei den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen sind palästinensischen Angaben zufolge seit Samstag 1.799 Palästinenser ums Leben gekommen. 6.388 Personen seien verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen mit.

Auch im Westjordanland wurden am Freitag bei Auseinandersetzungen an mehreren Orten palästinensischen Angaben zufolge zehn Menschen getötet. Mehr als 230 weitere Palästinenser wurden nach Angaben des Roten Halbmondes verletzt, die meisten davon durch Tränengas. 73 Menschen seien durch Kugeln und zwei durch Granatsplitter verwundet. Ein 15-Jähriger sei reanimiert worden. Das israelische Militär äußerte sich zunächst zu den meisten Vorkommnissen nicht. Die Armee teile aber mit, in einem Fall habe ein israelischer Zivilist auf einen Palästinenser geschossen. Die israelische Polizei habe die Waffe beschlagnahmt und eine Untersuchung des Vorfalls eingeleitet.

Von: APA/Reuters/dpa/AFP