Laut Militärökonom fährt Russland eine „Angstkampagne“

Ist Russlands Armee bereits am Ende?

Samstag, 29. Oktober 2022 | 11:08 Uhr

Zürich – Die militärische Führung Russlands ist in ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine offenbar verzweifelt. Davon ist zumindest Militär-Ökonom Marcus Keupp aus Zürich überzeugt. Nur so lasse sich die „Angstkampagne“ erklären, die Russland derzeit in Zusammenhang mit einer schmutzigen Bombe führt. Die Ukraine stationiert unterdessen einen Teil ihrer Truppen im Norden verstärkt an der Grenze zu Belarus. Doch auch ein Überfall aus Weißrussland wirkt eher wie ein Täuschungsakt.

Russland mag sich zwar wünschen, dass weißrussischen Truppen in der Ukraine angreifen und Ablenkungsmanöver starten. Keupp ist allerdings skeptisch: „Ich glaube, der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko ist zu schlau für solche Aktionen. Wenn man an das Alter und den Erhaltungszustand des Materials der Weißrussen denkt, dann wäre ein solcher Versuch geradezu selbstmörderisch. Es wäre der Untergang seines Regimes.“ Trotzdem könne man militärisch gesehen so eine Bedrohung nicht außer Acht lassen, weshalb die Ukraine Abwehrtruppen stationieren müsse. Damit ist ein Teil ihrer Truppenstärke gebunden. Das sei vermutlich auch Russlands Ziel.

Die militärische Realität schaut an vielen Orten an der Front allerdings anders aus. „Diejenigen, die zunehmend ausgedüngt und ohne Logistik und ohne Treibstoff dastehen, das sind die Russen“, sagt Keupp im Interview mit der Welt.

„Ursprüngliche Invasionsmacht verbraucht“

Russland verbucht kaum noch Geländegewinne. Gleichzeitig steht der Winter vor der Tür. Die einzige russische Offensive wird von den Söldnern der Wagner-Truppe geführt. Diese fand in den vergangenen Wochen südlich und südöstlich der Stadt Bachmut statt. Allerdings fängt die Ukraine sämtliche Vorstöße seit September ab.

An allen anderen Fronten ist Russland mittlerweile in der Defensive. Die Ukrainer konzentrieren unterdessen ihre Attacken auf die russische Logistik. Zurück bleiben Soldaten ohne Ausrüstung und Versorgung. „Die meisten westlichen Analysten gehen mittlerweile davon aus, dass Russlands ursprüngliche Invasionsmacht vom Februar mit 180.000 Soldaten mittlerweile verbraucht ist“, schätzt Keupp. Gehe man von 60.000 Toten aus, gebe es mindestens dreimal so viele Verletzte. Das erklärt auch die Mobilisierung in Russland, vor der sich Kreml-Chef Wladimir Putin so lange gesträubt hat.

Die Schwächen der Nachschubkräfte sind jedoch allseits bekannt. „Die Leute haben überhaupt kein Training oder waren vielleicht mal einen Tag auf dem Gewehrstand. Sie haben keine Ausrüstung oder müssen sie sich selber kaufen. Der Einsatzwert dieser Ersatztruppe ist quasi null“, erklärt Keupp. Das seien keine rosigen Aussichten für die Soldaten, die Russland zusätzlich aufbietet – vor allem, wenn diese Truppen keine Winteruniform haben.

„Es macht aus militärischer Sicht für Russland wenig Sinn, diesen Konflikt fortzusetzen. Aber wir haben es hier nicht mit Akteuren zu tun, die militärisch rational handeln. Die Folgen werden sie sich dann selbst zuzuschreiben haben“, erklärt Keupp.

Abschuss von US-Satelliten wäre „dumm“

Russland verschärft unterdessen seine Rhetorik auch in Richtung USA und warnt davor, amerikanische Satelliten abzuschießen, weil die USA der Ukraine wichtige Daten zur Aufklärung liefere. Keupp erinnert in diesem Zusammenhang an Artikel 51 der UN-Charta. Demnach haben alle Staaten das Recht, einem Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wird – wie eben in diesem Fall die Ukraine –, mit allen erdenklichen Mitteln zu helfen. Dazu zählt neben Waffenlieferungen auch die Versorgung mit taktischen Informationen.

Westliche Analysten schätzen dennoch, dass Russland technisch in der Lage wäre, einen Satelliten mittels Laser im Weltall abzuschießen, zumal die Russen dies in der Vergangenheit bereits getan und einen alten russischen Satellit auf eine solche Weise aus dem Orbit geholt haben. Trotzdem warnt Keupp vor einem derartigen Beschuss: „Sollten die Russen tatsächlich so dumm sein, das mit amerikanischen Satelliten zu tun, würden sie höchstwahrscheinlich eine entschlossene Gegenreaktion der USA provozieren – vor allem, wenn es sich um militärische Aufklärungssatelliten handelt. Das kann sich Russland im Moment am aller wenigsten leisten“, erklärt Keupp.

Lügen rund um die „schmutzige“ Bombe

Auch Russlands Atomdrohungen sind in erster Linie wohl Propaganda. Bereits von Anfang an wurden in politischen und militärischen Kreisen die russischen Behauptungen angezweifelt, Kiew plane den Einsatz einer schmutzigen Bombe. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief Russland etwa dazu auf, seine „falsche Behauptung“ zu einer nuklear verseuchten Bombe nicht als Vorwand für eine weitere Eskalation des Kriegs gegen die Ukraine zu nutzen.

„Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass die Russen gelegentlich andere für Dinge verantwortlich gemacht haben, die sie vorhatten zu tun“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen US-Sicherheitsrates, John Kirby. Man sehe nach wie vor keine Vorbereitungen der russischen Seite für den Einsatz von Atomwaffen und zu diesem Zeitpunkt auch nichts in Bezug auf den möglichen Einsatz einer „schmutzigen Bombe“.

Zuletzt wurde bekannt, dass das russische Außenministerium Fake-Fotos aus Slowenien aus dem Jahr 2010 in sozialen Netzwerken als vermeintlichen Beweis verbreitet hat, um den Eindruck zu erwecken, dass die Ukraine eine schmutzige Bombe bauen will. Die slowenische Regierung hat den Missbrauch der Fotos angeprangert. Russland wurde für den offensichtlichen Schwindel international belächelt.

Marcus Keupp sieht die Gefahr zwar gegeben, dass Russland weiter an der Eskalationsschraube drehen und eventuell eine False Flag-Operation vorbereiten könnte. Doch er schränkt ein: Es gebe durchaus Stimmen, die Russland vor solch einem Schritt deutlich abraten. „Man muss auch sehen, dass Russland bereits Warnungen erhalten hat, etwa vom indischen Außenminister, man solle möglichst keine Nuklearwaffen oder Nukleotide einsetzen.“ Keupp glaubt, dass sich das Propaganda-Manöver in erster Linie gegen den Westen richtet und nicht so sehr gegen die Ukraine.

Doch auch die eigene Bevölkerung ist der Adressat: Die Fotos aus Slowenien mögen zwar dilettantisch wirken, doch aus der Perspektive eines autoritären Regimes kommt es nicht drauf an, wie gut die Propaganda gemacht ist. „Das Regime bestimmt die Wahrheit und das Volk hat sie zu glauben. Das allein zählt“, erklärt Keupp.

Von: mk