Von: apa
Der osttimoresische Präsident und Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta bereut es, die Europäische Union für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen zu haben. “Ich bin so desillusioniert. Ich finde es ekelerregend, dass die Europäer so eine kalte Gleichgültigkeit gegenüber dem zeigen, was den Palästinensern passiert”, sagte er jüngst in Osttimors Hauptstadt Dili im Interview mit der APA.
Er nehme die EU nicht ernst, wenn sie über Demokratie und Menschenrechte spreche, betonte Ramos-Horta. Er habe “unzählige Male öffentlich gewarnt: Europa – der Westen – sollte vorsichtig sein mit Doppelmoral”. Der Nobelpreisträger stellt nicht nur die Glaubwürdigkeit Europas in Frage, er sieht es “bereits im Chaos, ja geradezu führungslos” seit dem Abgang der ehemaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel.
Im Hinblick auf Europas Haltung zum Gaza-Krieg nannte Ramos-Horta im APA-Interview zwei weitere Personen, die kein direktes EU-Amt ausüben. Die ehemalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock habe es “gewagt, Ausreden zu finden” für die Ermordung von palästinensischen Zivilisten. Den Generalsekretär der NATO wiederum, Mark Rutte, kritisierte der Staatschef von Osttimor dafür, dass jener gesagt habe, Israel breche nicht das Völkerrecht, wenn es Gaza mittels Flächenbombardement zerstöre.
“Mit welcher moralischen Berechtigung spricht der Westen also über die Ukraine?”, fragte Ramos-Horta. “Schauen Sie auf die Zahl der Kinder, die in der Ukraine von Russland getötet wurden; schauen Sie auf die Zahl der Kinder, die in Gaza von Israel getötet wurden”, verlangte er. Laut Zahlen der UNO sind im Zeitraum Februar 2022 bis November 2024 rund 2.500 Kinder getötet oder verletzt worden. In einem ähnlich großen Zeitraum – Oktober 2023 bis Mai 2025 – sind in Gaza etwa 50.000 Kinder getötet oder verletzt worden.
“Israel tötet mit völliger Straffreiheit”
“Wenn man in Timor-Leste (Osttimor, Anm.) ein Kind, eine unschuldige Person tötet, geht man ins Gefängnis”, sagte Ramos-Horta. Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu und die Israelis hingegen “töten mit völliger Straffreiheit”. Ramos-Horta vermutet, dass Europa sich aus einem Schuldgefühl wegen des Zweiten Weltkriegs so positioniere.
“Die Tragödie ist”, erklärte er mit einer Mischung aus Empörung, Bedauern und Selbstkritik, “dass ich derjenige bin, der die EU für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat.” Er habe sie zweimal nominiert. “Und ich bereue, dass ich es getan habe.”
Explizit nahm Ramos-Horta Spanien von dieser Kritik aus, das “das mutigste europäische Land” sei. “Sie waren die ersten, die sich zu Gaza äußerten und konkrete Schritte unternahmen.”
Ukraine-Krieg in Lage, “in der keine Lösung gut ist”
Was die Haltung Osttimors zum Ukraine-Krieg angeht, positionierte Ramos-Horta sein Land solidarisch mit der Ukraine. “Wir haben unsere Solidarität gezeigt, indem wir die Invasion durch Russland verurteilt haben, die einen Verstoß gegen die UN-Charta und gegen das Völkerrecht darstellt.” Eine für diese Woche angesetzte Reise des Staatschefs in die Ukraine wurde wegen russischer Angriffe auf ukrainische Regierungsgebäude kurzfristig abgesagt.
Zur aktuellen Lage meinte er: “Jetzt stecken wir fest: Wir befinden uns in einer Situation, in der keine Lösung gut ist.” Jedweder Lösungsvorschlag werde entweder von der Ukraine oder von Russland abgelehnt. “Jeder wird Verlierer sein”, prognostizierte Ramos-Horta.
Er wartete allerdings mit weiterer Kritik am Westen auf. “Die USA und Europa schienen sich nach dem Ende des Kalten Krieges nicht sonderlich darüber Sorgen zu machen, dass man Russland gedemütigt haben könnte”, behauptete der Osttimorese. Für den Westen sei der Sieg des Liberalismus im Vordergrund gestanden. Als später diskutiert wurde, ob die Ukraine der NATO beitreten solle, habe Russland die Krim besetzt. “Denn würde die Ukraine beitreten, hätte die NATO die Kontrolle über den dortigen Marinestützpunkt.”
Ramos-Horta wies in dem Zusammenhang auf zwei Ereignisse hin: den Zweiten Weltkrieg, der aus der “Demütigung Deutschlands im Ersten” entstanden sei, und die Kubakrise 1962, als die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationierte und schließlich von dort abtransportierte, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.
Osttimor an geostrategisch sensiblem Ort
Timor-Leste mag mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern und weniger als einem Fünftel der Fläche Österreichs ein kleines Land sein, geopolitisch ist es allerdings nicht zu unterschätzen. Der Staat teilt sich die Insel Timor mit dem ehemaligen Besatzer Indonesien. Präsident Ramos-Horta ist der Auffassung, dass Osttimor “an einem strategisch sensiblen Ort” liegt.
Über chinesischen Einfluss brauche sich der Westen keine Sorgen zu machen, befand Ramos-Horta. “Wir sind nicht zu nahe an China. Wir haben nach wie vor sehr gute Beziehungen zu Australien und Indonesien und unseren näheren Nachbarn”, führte er an. “Wir würden nichts tun, das bei Indonesien nicht gut aufgenommen würde”, betont er. Osttimor habe keine Absichten, bei seinen Nachbarn Unbehagen auszulösen. “Wir sind nicht verantwortungslos.” Im Oktober wird Osttimor ASEAN beitreten, der Gemeinschaft südostasiatischer Staaten.
Osttimor war 1975, unmittelbar nach dem Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft, von Indonesien besetzt worden. Auch auf internationalen Druck hin, vor allem aber durch die von Ramos-Horta und Mitstreitern initiierte Unabhängigkeitsbewegung, wurde 1999 ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten, das mit deutlicher Mehrheit angenommen wurde. 2002 wurde Osttimor international als eigenständiger Staat anerkannt.
Westen soll fossile Rohstoffe zuerst aufgeben
Studien zufolge werden Osttimors Vorräte an Öl und Gas innerhalb der nächsten zehn Jahre aufgebraucht sein. Das Land werde auf erneuerbare Energien umstellen, verspricht Ramos-Horta. “Aber wir werden die fossilen Rohstoffe nicht zu schnell aufgeben”, schränkt er ein. “Das überlassen wir denjenigen, die den Planeten ruinieren seit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert.” Die Europäer, genauer gesagt die Briten, und die USA hätten sie gestartet. Auch China und Indien seien verantwortlich, “aber es wäre heuchlerisch vom Westen, China zu beschuldigen. China ist das Land, das am meisten in Erneuerbare investiert.”
(Keine) Beziehungen zu Österreich
Mitte der 1990-er Jahre hatten sich Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung, darunter Ramos-Horta, in Stadtschlaining (Burgenland) und in Krumbach (Niederösterreich) getroffen. Basis für ausgeprägte diplomatische Beziehungen zwischen Osttimor und Österreich waren diese Begebenheiten offensichtlich keine. “Ich würde nicht sagen, dass wir eine historische Beziehung haben”, drückte Ramos-Horta es gegenüber der APA aus – “leider”. Er erinnere sich jedenfalls an keine. Mit Deutschland dagegen habe man eine engere Beziehung, da es über viele Jahre ein “wichtiger bilateraler Partner” gewesen sei; nun hingegen nicht mehr.
Friedensnobelpreis 1996
Der 75-jährige José Ramos-Horta ist seit 2022 Präsident von Osttimor, ein Amt, das er bereits von 2007 bis 2012 innehatte. Davor war er für rund ein Jahr Premierminister. Zwischen seinen Amtszeiten als Präsident war er zudem in einigen UNO-Funktionen tätig. 1996 erhielt er gemeinsam mit dem Bischof Carlos Ximenes Belo den Friedensnobelpreis verliehen, weil die beiden sich friedlich für die Unabhängigkeit Osttimors von Indonesien einsetzten. 2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Preis ausgezeichnet.
(Das Gespräch führte Moritz Hell/APA in Dili)
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