In ihrer ersten Regiearbeit blickt Binoche in sich hinein

Binoche steigt mit ihrem Viennale-Film in sich selbst hinab

Dienstag, 21. Oktober 2025 | 17:13 Uhr

Von: apa

Juliette Binoche und Akram Khan schreien sich an und fallen sich in die Arme, nur um dann wieder auseinanderzudriften. Für das im Jahr 2008 uraufgeführte Bühnenstück “In-I” hatten die französische Schauspielerin und der britische Choreograf ihre “Schutzschilde fallen gelassen”, erzählte Binoche im APA-Interview vor der Premiere ihres Regiedebüts bei der Viennale. Denn 18 Jahre später hält ihr Dokumentarfilm “In-I in Motion” diese Performance fest.

Binoche ist eine der großen, furchtlosen Emotionskünstlerinnen des Kinos. In dem von ihr inszenierten Film sieht man schrille Streitfetzen und hitzige körperliche Auseinandersetzungen, die im Tanz mit Khan entstehen. Das Stück selbst zeichnet den Bogen einer Liebesbeziehung von der anfänglichen Verliebtheit bis zur bitteren Trennung nach. Er wurde inzwischen von 156 Minuten auf 127 Minuten gekürzt, aber selbst das wird der Tiefe und Schwierigkeit dieses Prozesses eigentlich nicht gerecht. “Man muss in sich selbst hinabsteigen”, so die Künstlerin im Gespräch.

APA: Frau Binoche, Akram Khan hat erzählt, Sie hätten ihm das Walzertanzen beigebracht. Stimmt das?

Juliette Binoche: Wir haben es ein wenig versucht, aber ich würde es nicht als “Beibringen” bezeichnen. (lacht)

APA: Sie haben viele Gefühle in Ihre Performance, von der Ihr Film handelt, gepackt: Ängste, Wut und natürlich Liebe. War es emotional und körperlich anstrengend?

Binoche: Nein, als Schauspielerin ist man an solche Emotionen gewöhnt. Es ist überhaupt nicht anstrengend. Es ist Teil der Klaviernoten, wissen Sie? Das ist Ihre Musik: die Emotionen, Gedanken und Gefühle.

APA: Aber es geht in diesem Fall darum, Traumata zu verarbeiten. Es gibt diese eine Szene, in der Akram Khan über seinen Vater und sein Trauma spricht. Das ist ziemlich schwer, sehr real, und er sagt zu Ihnen: “Ich habe keine Quelle für dieses Stück, was Beziehungen angeht. Meine Quelle ist mein Vater. Aber Du hast eine Quelle.” Was ist Ihre Quelle? Und mussten Sie tief in sich selbst graben?

Binoche: Wenn sie Schauspielerin sind und an “Orte” gehen, die schwer erscheinen, dann kann die Tatsache, dass man darüber sprechen kann, und diese Gefühle durch das Offenlegen transformieren kann, einen befreien. Man fühlt sich lebendig und kreativ, weil man von einer Basis ausgeht – der Basis als Mensch. Es ist Ihre Erfahrung, es sind Ihre Emotionen, Ihre Gedanken. Wenn Sie das nicht haben, wo fangen Sie dann mit Ihrer Kreativität an? Es muss irgendwo erlebt worden sein. Die Freiheit und die Freude, Schauspielerin zu sein, besteht darin, diese Orte anzuzapfen, denn sonst gibt es keine Verwandlung. Man muss an einen Ort gehen, um sich zu verwandeln.

APA: Heißt das, dass Sie aufgrund Ihrer Lebenserfahrungen eine bessere Schauspielerin sind?

Binoche: Nun, man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man sich bloßstellen und in eine Situation begeben möchte, die nicht sehr angenehm ist. Man muss riskieren, lächerlich zu wirken, nicht verstanden zu werden, unklar zu sein, sich dumm zu fühlen. Ohne Demut kann man nicht wachsen. Meiner Meinung nach muss man ganz unten anfangen, um sich hochzuarbeiten und einen wahrhaftigen Ort zu erreichen. Aber man muss in sich selbst hinabsteigen, denn sonst bleibt es nur eine Idee. Sonst begibt man sich an einen Ort, der nicht wirklich aus einem selbst kommt. Ich glaube, Akram ging von der Annahme aus, dass weiße Menschen sich für privilegiert halten. Und ich ging von der Annahme aus, dass Männer privilegiert sind. Wir kamen beide mit Waffen und einem Schutzschild. Und wir mussten lernen, die Schutzschilde fallen zu lassen.

APA: Stimmt es, dass Robert Redford Sie ermutigt hat, diesen Film zu machen?

Binoche: Ja. Wir waren auf Tournee in New York, und er kam, um sich die Vorstellung anzusehen. Als wir von der Bühne kamen, wartete er vor meiner Garderobe. Ich war sehr überrascht. Er führte mich in meine Garderobe, schloss die Tür und sagte: “Sie müssen aus diesem Stück einen Film machen!” Und das wiederholte er mehrmals. Ich hatte darüber nachgedacht, wusste aber nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte. Ich hatte keine Möglichkeit dazu. Als wir dann nach Paris zurückkehrten, um die Tournee zu beenden, bat ich meine Schwester, die letzten sieben Vorstellungen zu filmen, und das tat sie auch.

APA: War es für Sie wichtig, dass es Ihre Schwester war, die gedreht hat?

Binoche: Ich weiß gar nicht, wie ich diese Frage beantworten soll, denn ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn es nicht meine Schwester gewesen wäre.

APA: Sie sind heute zu Gast in Wien. Sie sind mit Michael Haneke befreundet, sie beide haben in der Vergangenheit zusammengearbeitet, und Sie werden einander hier treffen. Glauben Sie, Sie könnten ihn davon überzeugen, noch einen Film zu machen?

Binoche: Das habe ich ihm bereits gesagt!

APA: Nun, er muss nichts mehr beweisen …

Binoche: Wahrscheinlich hat er es noch nicht getan, weil er sich nicht mit dem verbunden fühlt, was derzeit in der Welt geschieht. Er hat zu mir gesagt, dass er deshalb das Gefühl hat, nicht das Recht zu haben, einen weiteren Film zu drehen. Also habe ich ihm gesagt: “Warum sprichst du nicht genau darüber? Dass du dich mit der heutigen Welt nicht verbunden fühlst.” Denn wer fühlt sich schon mit der heutigen Welt verbunden?

(Das Gespräch führte Marietta Steinhart/APA)

(S E R V I C E – https://www.viennale.at)

Kommentare

Aktuell sind 0 Kommentare vorhanden

Kommentare anzeigen