Schluss damit!

“Victim Blaming”: Wenn Opfer zu Tätern gemacht werden

Montag, 09. September 2019 | 08:27 Uhr

Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht die Zeitung lesen und feststellen müssen, dass wieder eine Frau zum Opfer ihres Partners, ihres Ex, einer Liebelei oder eines verrückten Stalkers geworden ist.

Wir alle kennen das: Eine Frau wird von ihrem Lebensgefährten oder Ex ermordet und jeder fühlt sich dazu berufen, die Tat zu erklären und zu kommentieren. Nicht selten wird die ermordete Frau für ihr Schicksal verantwortlich gemacht: Sie muss doch etwas Gravierendes getan haben, ihren Partner oder Ex-Partner, ihre Liebelei gekränkt oder provoziert haben, sodass es soweit kommen musste, heißt es oft.

Nun die Frage: Warum beschuldigt die Gesellschaft manchmal Gewaltopfer statt den Täter?

Im Englischen wird dieses Verhalten “Victim Blaming” genannt und tatsächlich neigen manche Menschen zur Opferbeschuldigung, wenn sie einige Merkmale mit dem Angreifer teilen oder wenn sie nicht ihr Sicherheitsgefühl hinterfragen wollen. In letzterem Fall glauben sie nämlich, dass ihnen dasselbe passieren könnte wie dem Opfer, wenn sie es von allen Vorwürfen freisprechen würden. Umgekehrt erscheint es ihnen unwahrscheinlicher, dass sie selbst zum Opfer werden, wenn sie sich anders verhalten und somit kein Verbrechen „auslösen“: Wenn das Opfer einen angeblichen „Fehler“ gemacht hat, so der Fehlschluss, dann können sie nicht selbst zum Opfer werden, wenn sie diesen Fehler nicht auch begehen.

Wenn wir fälschlicherweise glauben, dass die Person, die die Aggression erlitten hat, verantwortlich für ihre Gewalttat sei, fühlen wir uns also sicherer. Denn dann können wir uns vormachen, dass wir die Situation unter Kontrolle haben. Mit anderen Worten, wir glauben, dass wir sicher wären, solange wir „das Richtige tun“. Dieser Glaube führt dazu, dass wir das Opfer beschuldigen.

Bei jeder Art von geschlechtsspezifischer Gewalt neigen Menschen dazu, die Verantwortung für die Tat bei den Opfern zu suchen. Präventions- und Aufklärungskampagnen können ein Beispiel dafür sein, da sie sich oft nur auf „Sicherheitsmaßnahmen“ konzentrieren, die Frauen ergreifen sollen, wenn sie eben nicht Opfer einer solchen Gewalttat werden wollen.

Wenn wir Opfer beschuldigen, versetzen wir uns in ihre Lage?

Menschen, die Gewalt erleben, halten uns vor Augen, dass die Welt manchmal kein sicherer und gerechter Ort ist. Wenn wir also das Opfer beschuldigen, an dem Verbrechen schuldig zu sein, können wir unsere Illusion einer sicheren Welt aufrechterhalten. Wir wollen glauben, dass wir nur das Richtige tun müssen, um solche schrecklichen Dinge vorzubeugen. Doch leider funktioniert unsere Welt nicht so.

Aber die Tatsache, dass wir als Menschen eine Tendenz dazu haben, das Opfer zu beschuldigen, heißt nicht, dass wir diese nicht überwinden könnten. In einer Studie haben Laura Nieme und Liana Young ihren Probanden Artikel vorgelegt, die entweder das Opfer oder den Täter herausstellten. Wenn der Beitrag sich auf die Taten des Täters fokussierte, nahm die Tendenz zur Opferbeschuldigung ab.

Statt uns also auf die Frage zu konzentrieren, warum das Opfer so oder so handelt, sollten wir mehr Fragen darüber stellen, wie diese Gewalt entsteht und warum Täter immer wieder Gewalt verüben.

Ein gutes Beispiel für “Victim Blaming” sind die Reaktionen auf die Ermordung einer Frau durch ihren Ehemann am Gardasee, über die Südtirol News letztens berichtet hat. Einige Kommentatoren unterstellten der Frau, sie habe gewiss etwas angestellt, vielleicht eine Affäre gehabt oder einen neuen Mann ins Leben gelassen. Ignoriert wurden die Hinweise, dass der Ehemann der Ermordeten für die Justiz kein unbeschriebenes Blatt ist und bereits in Vergangenheit Gewalt gegen seine Frau angewendet hat – inklusive krankenhausreif geschlagen.

Die ermordete Frau wird von nicht wenigen Kommentatoren und ihren Befürwortern (Like-Button) unterschwellig oder direkt für ihr bitteres Ende selbst verantwortlich gemacht.

Für die vielen Frauenmorde, die in Italien verzeichnet werden, sollen die Frauen selbst Schuld sein. Sie werden es wohl provoziert haben, scheint die Meinung zu sein.

Der Mord wird als Kurzschlussreaktion bezeichnet, obwohl in den allermeisten Fällen Gewalt in der Beziehung allgegenwärtig war und in nicht wenigen Fällen von einer geplanten Tat die Rede sein kann oder den finalen Akt einer Negativspirale, die sich schon lange abgezeichnet hat.

Weiter gedacht, werden mordende Männer in Schutz genommen. Nun hoffen wir doch, dass sich keiner mit Menschen identifiziert, die kaltblütig zustechen, weil sie nicht ihren Willen bekommen, oder aus irgendwelchen anderen Gründen. Die Mörder sind das Problem und nicht deren ausgelieferte Opfer! Ganz klar wollen sie dominieren, koste es was es wolle!

Immer wieder wird gesagt, die Frauen hätten wohl den Mann betrogen und seine Rache heraufbeschworen. Doch selbst wenn eine Frau einen neuen Mann in ihr Leben lassen würde, so ist das ihr gutes Recht. Das machen Männer genauso: Wenn sie eine neue Partnerin haben oder eine Affäre, dann ist das Mal so. Werden sie deshalb von der gekränkten Ex oder der offiziellen Partnerin ermordet? In den wenigsten Fällen! Würde man sagen: “Das hat der Mistkerl verdient!”? Nein! Die gekränkten und verletzten Frauen werden zornig sein – doch zustechen? Also schön nachdenken, bevor man Ermordeten auch noch nach ihrem Ableben Messerstiche verpasst, die aus unüberlegten Worten bestehen!

Von: bba