Tod von fünf Arbeitern: RFI-Techniker findet keine Ruhe mehr – VIDEO

“Schlafmittel und untröstliches Weinen”

Montag, 04. September 2023 | 08:08 Uhr

Brandizzo/Grugliasco – Der Eisenbahntechniker Antonio Massa, der den Arbeitern auf der Eisenbahnbaustelle in Brandizzo grünes Licht gab, findet seit dem schrecklichen Arbeitsunfall, der fünf Gleisarbeitern das Leben kostete, weder Trost noch Ruhe.

Seit dieser verhängnisvollen Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag, so seine Familie und seine Freunde, prägen „Schlafmittel und untröstliches Weinen“ den quälenden Alltag des Technikers. Für die Staatsanwaltschaft von Ivrea ist der 46-Jährige aus Grugliasco bei Turin, der als „Baustellenbegleiter“ des italienischen Eisenbahnnetzbetreibers Rete Ferroviaria Italiana RFI zum Zeitpunkt des Unglücks auf den Gleisen war, die Schlüsselfigur zur Klärung der Ursachen der Tragödie.

Seit Mittwoch, dem 30. August um 23.47 Uhr ist im Leben von Antonio Massa nichts mehr, wie es vorher war. Der 46-jährige Eisenbahntechniker, den seit dem schrecklichen Arbeitsunfall schwere Schuldgefühle plagen, kann ohne Medikamente nicht mehr schlafen. Selbst die Umarmungen seiner beiden Kinder, die Liebe seiner Frau Cinzia und die menschliche Solidarität seiner Freunde können ihn nicht trösten. Seine „Jungs“, wie er sie nannte, sind alle gestorben und er fühlt sich für ihren Tod verantwortlich.

„Was auch immer das Ergebnis des Prozesses sein wird, wird es nie das sein können, was er als Mensch erlebt hat“, fasst die Staatsanwältin von Ivrea, Gabriella Viglione, das Erlebte des Eisenbahntechnikers Antonio Massa in Worte. Für die Staatsanwaltschaft von Ivrea ist der 46-Jährige, der als „Baustellenbegleiter“ des staatlichen italienischen Eisenbahnnetzbetreibers Rete Ferroviaria Italiana RFI zum Zeitpunkt des Unglücks auf den Gleisen war, die Schlüsselfigur zur Klärung der Ursachen der Tragödie. Trotz der fehlenden Mitteilung der Unterbrechung der Strecke durch den Leiter der zuständigen Stelle für Zugbewegungen von Chivasso soll der Eisenbahntechniker Antonio Massa den fünf Arbeitern für den Beginn der Gleisarbeiten Grünes Licht gegeben haben.

Der italienische Eisenbahnnetzbetreiber RFI, dessen Angestellter er war, hatte Antonio Massa damit beauftragt, eine Gruppe von Arbeitern zu begleiten, die einige Gleisstücke zu ersetzen hatten. Die Aufgabe des 46-jährigen Eisenbahntechnikers war es, sich mit der Bahn abzustimmen und zur Sicherheit der Gleisarbeiter die Strecke für Arbeiten erst dann freizugeben, nachdem die Unterbrechung des Zugverkehrs erfolgt war. Allerdings war für die Unterbrechung des Bahnverkehrs kein Einsatzplan unterschrieben worden und die Leiterin der für die Zugbewegungen zuständigen Fahrdienststelle ließ dem Techniker sogar noch eine eindringliche Warnung zukommen. „Achtung, es wird noch ein verspäteter Zug durchfahren“, erklärte sie ihm. Als er mit den Arbeiten beginnen wollte, entgegnete sie ihm, dass auf der betreffenden Strecke der Zugverkehr noch nicht unterbrochen sei.

Letzten Erkenntnissen zufolge ließ er die Arbeiten trotzdem beginnen. Warum mit einer solchen Eile vorgegangen wurde, ist selbst für die Staatsanwaltschaft von Ivrea ein Rätsel. Sie geht davon aus, dass das Unternehmen, das Wartungsarbeiten an der Strecke durchführte, Angst vor möglichen Strafzahlungen für längere Zugverkehrsunterbrechungen gehabt haben könnte. Allerdings glaubt man bei der Staatsanwaltschaft auch, dass es gängige Praxis gewesen sei, Gleisarbeiten bereits vor der vorgeschriebenen endgültigen Unterbrechung des Bahnverkehrs in Angriff zu nehmen, da die Genehmigung – so die verhängnisvolle Annahme – später ohnehin kommen werde. Diese der Arbeitssicherheit spottende Praxis war vielleicht sogar jahrelang ohne Folgen geblieben, aber eines Tages musste der verhängnisvolle Fall eintreten, dass ein Zug mit Verspätung unterwegs sein und es zu einem verhängnisvollen Irrtum kommen würde.

ANSA / TINO ROMANO

Zusammen mit den beiden Lokführern, die sich nichts zuschulden kommen ließen, wurden sowohl Antonio Massa als auch der Leiter des Arbeiterteams, Andrea Gibin, Zeugen der schrecklichen Tragödie. Antonio Massa und Andrea Gibin wurden beide ins Ermittlungsregister eingetragen, aber da die Verantwortung für die Freigabe der Strecke für die Gleisarbeiten praktisch allein beim 46-Jährigen lag, wiegt seine Verantwortung schwer.

Das Gespräch mit der Leiterin der für die Zugbewegungen zuständigen Fahrdienststelle von Chivasso, das nun auch der Staatsanwältin von Ivrea vorliegt, brannte sich tief in das Gedächtnis von Antonio Massa ein. „Also! Wir müssen diese Arbeiten erledigen. Wann geben Sie mir meine Strecke frei?“, fragte der 46-Jährige, während er auf dem Bahndamm auf- und abging. „Warte, es gibt noch kein Grünes Licht“, erwiderte ihm die Leiterin. „Es muss noch ein leerer Zug vorbeifahren, der Verspätung hat. Sie haben nur zwei Zeitfenster zum Arbeiten“, fügte sie hinzu, woraufhin sie im zwei Zeitfenster anbot, die beide zwischen Mitternacht und 1.30 Uhr in der Früh lagen, denn für 1.30 Uhr war die Durchfahrt eines Güterzugs geplant. „Es ist keine lange Arbeit, wir werden leicht vor 1.30 Uhr fertig sein“, antwortete Antonio Massa beruhigt.

Während sich die Arbeiter bereit für die Gleisarbeiten machten, fuhr ein Zug vorbei. Allerdings war es nicht der leere Zug, der Verspätung hatte, sondern ein Personenzug. Die Ermittler mutmaßen, dass der Techniker der Netzgesellschaft der italienischen Staatsbahnen RFI geglaubt haben könnte, dass dies der angekündigte verspätete Zug gewesen sei. Da er fatalerweise zur falschen Ansicht gekommen sei, dass für die Arbeiter keine Gefahr mehr bestehe, habe er trotz der nicht eingegangenen Mitteilung der Unterbrechung der Bahnlinie die Erlaubnis erteilt, mit den Arbeiten zu beginnen.

Damit nahm die Tragödie seinen Lauf. Das der Staatsanwaltschaft von Ivrea vorliegende aufgezeichnete Telefongespräch dokumentiert die letzten Momente im Leben der fünf Arbeiter. Während Antonio Massa noch immer mit der Leiterin in Chivasso spricht, befinden sich die Arbeiter bereits mitten zwischen den Gleisen. Baustellenlärm ist im Hintergrund zu hören, als die Leiterin den Techniker erneut darauf hinweist, dass der Bahnverkehr noch nicht unterbrochen sei. In diesem Moment erreicht der leere Zug die Baustelle. Die Schreie der Arbeiter mischen sich mit dem Quietschen der Bremsen. Für die fünf Arbeiter – Kevin Laganà[22], Michael Zanera[34], Giuseppe Lombardo[53], Giuseppe Sorvillo[43] und Giuseppe Aversa[49] – kommt jede Hilfe zu spät. Sie werden vom Zug Hunderte von Metern mitgeschleift.

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Es gibt Fehler, von denen es kein Zurück mehr gibt. Im Leben von Antonio Massa wird nichts mehr sein, wie es vorher war.

 

Von: ka