Eurac Research stellt ersten interdisziplinären Migrationsreport vor

Wie Migration Südtirol verändert

Dienstag, 15. September 2020 | 11:30 Uhr

Bozen – Wer vor 25 Jahren von der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Südtirol sprach, der meinte die drei historischen Sprachgruppen. Seit Mitte der 1990-er Jahre jedoch hat die Zahl der Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die in Südtirol leben, beständig zugenommen, und alles spricht dafür, dass sie weiter zunehmen wird – trotz Pandemie. Die wachsende Bevölkerung mit Migrationshintergrund – 16.000 Menschen im Jahr 2002, fast drei Mal so viele, über 50.000, im Jahr 2017 – bringt neue Vielfalt in die Provinz, und damit auch neue Herausforderungen und Fragen. Im „Migrationsreport Südtirol 2020“ analysieren 30 Forscher und Forscherinnen aus den Bereichen Soziologie, Geografie, Rechts- und Politikwissenschaft, Geschichte, Biologie, Anthropologie und Sprachwissenschaft, wer die Menschen sind, die nach Südtirol kommen, und wie ihre Integration in Schule, Arbeitswelt und Politik funktioniert. Ergänzt wird die Darstellung durch Interviews, Infografiken und Fotos. Der rund 100-seitige Report ist als Hilfsmittel für die Politik gedacht, aber auch als Unterrichtsmaterial und ansprechende Lektüre für alle Interessierten.

Lorenzo stammt aus Rom und arbeitete in Frankreich, Marokko und Sri Lanka, bevor er sich in Bozen niederließ; Hanaa kam vor 30 Jahren aus dem Irak nach Italien und ist jetzt Gemeinderätin für die Lega Nord; Gertrud zog 1952 mit ihren Eltern von Graun im Vinschgau nach Kirchdorf in Tirol, weil ihr Haus im Stausee versunken war: drei Migrationsgeschichten von vielen, die im „Migrationsreport Südtirol 2020“ vorkommen und vor Augen führen, wie vielfältig das Phänomen in unserer Provinz ist. Tatsächlich sind sehr viel mehr Menschen in Bewegung, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen, allerdings mit sehr unterschiedlichen Motivationen und Ressourcen. „Medien und Politiker vermitteln uns oft ein irreführendes Bild, indem sie die Aufmerksamkeit ausschließlich auf eine bestimmte Art von Migration richten: jene aus Ländern mit niedrigem Einkommen oder einer uns fremden Kultur”, unterstreicht die Juristin Roberta Medda-Windischer, Mitherausgeberin des Berichts. „Mögen in der allgemeinen Wahrnehmung auch einige Gruppen Misstrauen wecken, sieht die Wirklichkeit doch anders aus, als wir glauben, oder als die professionellen Angstmacher uns glauben machen wollen. Erweitern wir unseren Blickwinkel, so zeigen uns die Daten und Forschungsergebnisse ein viel umfassenderes Bild.“

Betrachtet man die in der Provinz ansässige ausländische Bevölkerung nach Nationalitäten, ist das am stärksten vertretene Herkunftsland Albanien, gefolgt von Deutschland und Pakistan; insgesamt stellen europäische Staaten über 63 Prozent der ausländischen Bevölkerung in Südtirol, alle afrikanischen Staaten zusammengenommen dagegen nur 14 Prozent. Entgegen landläufiger Meinung ist die vorherrschende Religion das Christentum, und die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, die ihr Pass als „ausländisch” definiert, sind in Italien geboren und aufgewachsen.

Was den Arbeitsmarkt betrifft, analysiert der Report einerseits die Zuwanderung von Arbeitskräften sowohl aus anderen Ländern wie auch aus anderen Regionen Italiens: Mit einer starken Nachfrage und einer Gesamtarbeitslosigkeit von unter drei Prozent, gehörte die Provinz Bozen 2017 zu den für Arbeitskräfte attraktivsten Provinzen Italiens, übertroffen nur von Bologna und Monza Brianza. Auf der anderen Seite berichtet der Report auch von denen, die Südtirol verlassen: 1500 Menschen allein im Jahr 2017, zwei Drittel von ihnen mit einem Universitätsabschluss.

Migrationsbewegungen haben stets ein doppeltes Gesicht, auch in Südtirol: Einerseits unvermeidbar und häufig aus wirtschaftlichen Gründen unverzichtbar, bergen sie andererseits das Risiko sozialer Spannungen, wenn das Zusammenleben nicht mit Umsicht und Mut gestaltet wird. „Auch in Südtirol, wo viele Menschen sehr heimatverbunden sind, ist es weder möglich noch wünschenswert, sich den globalen Dynamiken zu entziehen”, erklärt der Soziologe Andrea Membretti, Mitherausgeber des Reports. „Im Gegenteil, gerade hier, wo das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Sprachgruppen erst mühsam errungen werden musste, bedeuten die neuen Migrationsbewegungen eine Herausforderung. So ist erst noch zu definieren, welche Rolle die neuen Bevölkerungsgruppen, gemeinsam mit den seit Langem ansässigen, bei der Entwicklung der Region spielen.“

Interessant ist etwa, dass die neuen Bürgerinnen und Bürger längst nicht mehr nur Städte als Wohnort wählen: Die Zahl jener, die von der Stadt in ländlichere Gebiete gezogen sind, ist zwischen 2000 und 2018 um 30 Prozent gestiegen, während Umzüge in der Gegenrichtung nur um 23 Prozent zunahmen. Ein anderer Aspekt, der im Report aus juristischer und politikwissenschaftlicher Sicht eingehend betrachtet wird, betrifft den im Autonomiestatut verankerten „ethnischen Proporz”: Was bedeuten die demografischen Veränderungen durch Zuwanderung für diese gesetzliche Regelung? Und wie kann die Südtiroler Politik Immigration, anstatt ihr mit Misstrauen zu begegnen, für eine Stärkung der Autonomie nutzen, so wie es zum Beispiel in Katalonien und Schottland geschieht?

„In Eurac Research haben wir in einer großen, interdisziplinären Gruppe an dem Report gearbeitet und zudem verschiedene öffentliche und private Einrichtungen und einzelne Expertinnen und Experten konsultiert; es waren fast zwei Jahre intensiver Arbeit, kreativ unterstützt von unserem Kommunikationsteam“, betont die Anthropologin Johanna Mitterhofer, Projektmanagerin. Die Inhalte sind breit gefächert: vom Umgang mit sprachlicher, kultureller und religiöser Vielfalt über den Arbeitsmarkt, die Schule und die Politik, mit Beiträgen auch zum Thema Wohnen, zu den Erfahrungen des Bozner Krankenhauses oder zu Klagen wegen Diskriminierung.

„Indem wir Analysen und Empfehlungen für politische Entscheidungsträger, öffentliche Verwaltungen, Privatpersonen und Akteure des dritten Sektors bereitstellen, die sich in Südtirol mit dem Thema Migration befassen, wollen wir einen konkreten Beitrag leisten, die Zukunft unserer Region zu gestalten”, betont Stephan Ortner, Direktor von Eurac Research.

Der Migrationsreport Südtirol 2020 ist als Download auf der Website von Eurac Research verfügbar oder kann kostenlos im Hauptgebäude, Drususallee 1, abgeholt werden.

Von: mk

Bezirk: Bozen