Von: mk
Meran – 1960 zählte Südtirol 3,7 Millionen Nächtigungen, 1980 waren es schon 17 Millionen. Wie veränderte der Tourismus das Land? Brachte er neue Weltanschauungen? Und rettete oder zerstörte er die bergbäuerliche Lebenswelt in Südtirol? Ein neues Forschungsprojekt des Touriseums beantwortet diese und viele andere Fragen zu diesem Thema.
Die 1960-er und 1970-er Jahre markieren für Südtirol in mehrfacher Hinsicht eine Epochenschwelle: Mit der Ausarbeitung und Annahme des Südtirol-Paketes wurde das Fundament für das Zweite Autonomiestatut des Jahres 1972 gelegt, zugleich avancierte in jenen Jahren der Tourismus zur Schrittmacher-Industrie, er ließ neue Arbeitsplätze entstehen, brachte Investitionen ins Land und bedingte eine neue Konsumkultur. Er schuf Integration und Separation, führte zu Brüchen, bot ungeahnte Chancen, prägte Mentalität und Identität. Im Jahr 1960 zählte Südtirol 3,7 Millionen Nächtigungen, 1980 waren es schon 17 Millionen.
Das Forschungsprojekt des Touriseum – Landesmuseum für Tourismus – Schloss Trauttmansdorff „Tourismus in Südtirol von 1961 bis 1983“ will diese Jahre des sozialen Aufbruchs und die Metamorphose Südtirols Wirtschafts- und Kulturlebens kritisch beleuchten sowie erforschen, wie die Berührung zwischen dem deutsch-österreichischen Wirtschaftswunder und Italiens „miracolo economico“ in der „Scharnierregion“ Südtirol zu einem retardierten Boom und einer Zunahme des Wohlstands für breite Bevölkerungsschichten führten.
Die beteiligten Fachleute fragen sich dabei auch: Hilft die Rückschau auf die Ursprünge des Tourismus in Südtirol und die „Inkubationszeit“ des Südtiroler Wohlstands, um die Tourismusakzeptanz zu reflektieren, ja gar zu festigen? Und wie wurden die in Südtirol lebenden Menschen was sie heute sind? Sie analysieren, wie und wo Akquise und Ausbildung der touristischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgten, ob der Zustrom von Urlaubsgästen neue Weltanschauungen ins Land brachte und ob der Tourismus die Lebensweisen, die kulturellen und moralischen Codes der Südtirolerinnen und Südtiroler veränderte. Sie gehen zudem den Fragen nach, inwieweit der Massentourismus das Erfinden von Traditionen bedingte, beispielsweise das Zelebrieren der Törggele-Kultur, ob der Tourismus nach 1961 die bergbäuerliche Kultur in Südtirol rettete oder zerstörte und wie und von wem die alpine Idylle touristisch inszeniert wurde.
Die Forscherinnen und Forscher werden dabei archivalische und bibliographische Quellen sowie Fotoalben, Filmaufzeichnungen und Tagebücher auswerten, aber auch Stimmen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einfangen (viele Tourismuspionierinnen und -pioniere sind in den 1940er-Jahren geboren und nun bereits über 80 Jahre alt).
Der Forschungsfonds des Betriebs Landesmuseen sicherte dem Projekt kürzlich eine finanzielle Förderung von 76.080 Euro zu. Leiten werden es der Direktor des Landesmuseums Schloss Tirol und des Touriseums Leo Andergassen und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Touriseums Evelyn Reso, mit der Durchführung des Vorhabens beauftragt werden hingegen die beiden externen Mitarbeiter Paul Rösch, ehemaliger Direktor des Touriseums, Ethnologe und Tourismushistoriker, und Patrick Rina, Journalist und Herausgeber diverser Publikationen zur Südtiroler Zeitgeschichte. Beratend zur Seite stehen ihnen der Historiker und Universitätsdozent Hans Heiss, der Historiker und wissenschaftliche Mitarbeiter bei Eurac Research Hannes Obermair und die Kulturhistorikerin und -publizistin Adina Guarnieri.