Keine Frau ist immun

Die Welt der weiblichen Sucht

Freitag, 07. April 2023 | 07:46 Uhr

Bozen – Überall auf der Erde konsumieren Menschen illegale Substanzen – Männer wie Frauen. Im Schnitt sind zwar mehr Männer betroffen, doch jeder dritte Drogenkonsument weltweit ist weiblich. Die Umstände, wie Frauen und Männer Drogen konsumieren, aber auch die Folgen des Konsums unterscheiden sich körperlich und sozial. Maßnahmen zur Schadensminimierung seien erfolgreicher, wenn Geschlechterunterschiede berücksichtigt werden, sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Marcella Minotti vom Bozner Ambulatorium des Vereins HANDS anlässlich des Welttages der Gesundheit am 7. April.

“Wenn es um Alkoholkonsum geht, wird in vielen Ländern der Blick hauptsächlich auf männliche Konsumenten gerichtet. Doch die physischen und sozialen Begleiterscheinungen des Missbrauchs unterscheiden sich zwischen Frauen und Männern.” Allein im vergangenen Jahr 2022 hat der Verein HANDS mehr als 400 Frauen begleitet, die alkohol- oder drogenabhängig und/oder spielsüchtig waren. Psychotherapeutin Marcella Minotti hat einer Gruppe von Frauen im Rahmen der Therapie den Auftrag gegeben, die eigene Suchtbeziehung in einer Geschichte zu beschreiben. Die 35-jährige Amelie (Name geändert), alkohol- und drogenabhängig, formulierte wie folgt:

“Es war einmal eine kleine Außerirdische, die sich gezwungen sah, gegen deformierte Monster und grausame Kreaturen zu kämpfen. Sie betrachtete die Erde aus der Ferne, sehnte sich danach, sie zu erreichen, und träumte davon, sich auf magische Weise in einen Schmetterling zu verwandeln, um frei in den Himmel zu fliegen. Aber da Träume nur Träume bleiben, entschied die kleine Außerirdische irgendwann, nicht mehr zu kämpfen und schloss sich für immer in ihrer Hütte ein. Das war der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Dort konnten die Monster nicht eindringen. Ab und zu steckte sie den Kopf hinaus und betrachtete die Welt. Glücklich war sie nicht.”

Marcella Minotti erklärt: „Amelie begegnet vergangenen Traumata auf schmerzhafte Weise und ist mit tiefem inneren Leid konfrontiert. Als Problemlösung wählt sie den Weg in die Sucht. Drogen wurden zu einem illusorisch heilsamen Erlebnis und zum Zufluchtsort für Amelie. Die Drogen schützen Amelie zwar vor den inneren Monstern, werden ihr aber zeitgleich zum lebensfeindlichen Gefängnis.”

Abhängige Frauen seien Gefangene von Substanzen, von häuslichen Mauern, von eigenen Ängsten, vom Schmerz erlittener Gewalt, von Misshandlung und Missbrauch in der Familie, sagt die HANDS-Psychotherapeutin. “Die Frauen bleiben in ihren Geheimnissen und Tabus oder in ungesunden emotionalen Beziehungen hängen. Viele unserer begleiteten Frauen leben sozial isoliert, stigmatisiert und einsam“, sagt Marcella Minotti. „Mit Alkohol, Drogen und Glücksspiel entfliehen sie dem eigenen Leid und nie verarbeiteten Traumata. Mit Drogen negieren sie gefährliche empfundene Emotionen und versuchen, emotionale Leere zu füllen. Unsere begleiteten Frauen sind mutig und zerbrechlich zugleich“, sagt die Psychotherapeutin. Die Frauen hätten Angst, ihr Leben zu ändern, weil sie die Folgen ihrer Entscheidung fürchten.

Weibliche Sucht zeigt sich anders

Erst ab Mitte der 1980-er-Jahre begannen Gesundheitsorganisationen, geschlechtsspezifische Studien durchzuführen. Alkohol ist im Bereich der weiblichen Sucht die Hauptsubstanz. Alkohol sei eine leicht verfügbare Droge mit unmittelbarer Wirkung, die zu jeder Tageszeit und allein konsumiert werden kann, sagt die HANDS-Mitarbeiterin. Frauen werden schneller alkoholabhängig als Männer, haben schneller Probleme an Leber, Herz und Kreislauf, entwickeln häufiger missbrauchsbedingte psychiatrische Komplikationen. Drei Prozent der Krebserkrankungen in Mund, Rachen, Kehlkopf und Nasenhöhle, in der Leber, im Dickdarm und der Brust der Frauen sind auf Alkoholkonsum zurückzuführen. Alkoholmissbrauch wirkt sich auch negativ auf die Fruchtbarkeit aus. Bei einer Schwangerschaft hat Alkohol eine toxische Wirkung auf den Fötus, beeinträchtigt seine körperliche und geistige Entwicklung du versursacht Missbildung und geistige Retardierung. Bei älteren Frauen kann Alkoholkonsum den neurologischen und geistigen Verfall beschleunigen. Alkohol begünstigt die Entstehung von Osteoporose. Bei Mädchen unter 14 Jahren sind die durch Alkohol verursachten Schäden wesentlich größer als bei reiferen Frauen.

Keine Frau ist immun

Die Welt des weiblichen Alkoholismus ist heterogen. Frauen aller Altersgruppen, Kulturen und sozialen Schichten sind betroffen. Genetische und umweltbedingte Faktoren führen dazu, persönliche Merkmale und Lebenserfahrungen bis hin zu demografischen Faktoren wie Alter, Familienstand, Beruf oder ethnische Herkunft. Frauen neigen dazu, sich mit alkoholischen Substanzen zu beherrschen und selbst zu therapieren. Häufig wird schädlicher Alkoholkonsum durch vorhandene Störungen wie Depression, Angstzustände, Stimmungs- und Essstörungen begünstigt.

Alkohol ist das größte Problem

Etwa 85 Prozent der Klientinnen und Klienten von HANDS haben Probleme mit Alkohol, davon 35 Prozent Frauen; etwa zehn Prozent sind pathologische Glücksspieler und Glücksspielerinnen, davon zwei Prozent Frauen; fünf Prozent aller Patienten und Patientinnen haben Probleme mit illegalen Drogen, vier Prozent davon sind Frauen.

„Wir arbeiten mit psychosozialen und medizinischen Maßnahmen, entwickeln individualisierte multidimensionale Therapieprogramme, die Psychotherapie und Rehabilitation beinhalten“, sagt die HANDS-Mitarbeiterin. Im Lauf der vergangenen 41 Jahre habe HANDS festgestellt, dass geschlechtsspezifische Berücksichtigung die Behandlung positiv beeinflusst. „Die Frauen führen die Therapie leichter zu Ende, werden stabil und spüren den Behandlungserfolg.“

HANDS begleitet unter anderem weibliche Therapiegruppen, bietet Freizeitangebote für Frauen mit Handwerks- und Basteltätigkeiten an. Da wird gemalt, getanzt, werden Kosmetikprodukte hergestellt und Gesundheitswochen am Meer durchgeführt.

Von: luk

Bezirk: Bozen